Im Jahr 2020 investierte Boehringer Ingelheim mehr als je zuvor in Forschung und Entwicklung. Bild: obsDer Chef des Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim spricht über Corona-Arzneien und die komplexe Produktion von Impfstoffen, politischen Druck und welche Prioritäten er beim Management der Pandemie setzen würde.Herr von Baumbach, Boehringer Ingelheim hat trotz Pandemie im vergangenen Jahr rund 20 Milliarden Euro umgesetzt. Was lief besonders gut, wo gab es Probleme?

Wir haben es im letzten Frühjahr geschafft, 40.000 Mitarbeiter innerhalb eines Wochenendes ins Homeoffice zu verlagern. Es gab deshalb keine Unterbrechungen, wir waren relativ schnell wieder produktiv. Die Pandemie war insofern ein Treiber, weil wir in den vergangenen Jahren schon intensiv den Kontakt zu Kunden digitalisiert haben. Insofern hatten wir einen Vorsprung. Auch unsere Produktion und Lieferketten waren widerstandsfähig. Als die Grenzen innerhalb Europas geschlossen wurden, mussten wir neue Lieferwege aufsetzen. Ob in Norditalien mit einem chemischen Betrieb, unserer Produktion in Deutschland oder Frankreich – unsere Teams haben es geschafft, die Produktion am Laufen zu halten. Das hatte großen Anteil an unserem Erfolg.

Dennoch haben Wettbewerber die Krise stärker gespürt, da weniger Menschen im Krankenhaus behandelt wurden. Das trifft vor allem auf Spezialmedikamente zu. Da hat man bei dem einen oder anderen die negativen Auswirkungen in der Bilanz gesehen. Es war schwieriger, dass Ärzte ihre Patienten sehen und somit Rezepte erneuern. Wenn die Krise weiter anhält, wird das eine Herausforderung bleiben.Boehringer hat im vergangenen Jahr 3,7 Milliarden Euro für Forschung ausgegeben, so viel wie noch nie. Worauf lag der Fokus dabei?In der Onkologie waren wir sehr aktiv. Aber darüber vergessen wir auch andere Bereiche nicht, wie beispielsweise Schizophrenie. In dem Bereich sind so gut wie keine neuen Medikamente auf den Markt gekommen.

Wir haben ein Produkt in der klinischen Phase 3. Auch im Bereich der Immunologie haben wir einige Wirkstoffe in der Pipeline.Gegen Corona forscht Boehringer ebenfalls. Wie ist da der Stand? Wir sind in mehreren Projekten aktiv. Sehr zuversichtlich sind wir mit Blick auf einen Antikörper, mit dem wir nun die zweite Studienphase starten. Es ist der erste Antikörper, der inhalativ verabreicht wird. Dadurch kann die Dosis erheblich reduziert werden, weil er direkt in die Lunge geht und das Virus dort schneller und besser neutralisieren kann. Er würde sich für Alten- und Pflegeheime und den ambulanten Bereich eignen. Damit sind wir wirklich innovativ.

Im Laufe des zweiten Halbjahrs rechnen wir mit klinischen Daten und könnten dann eine Notfallzulassung beantragen.Hubertus von Baumbach, Vorsitzender der Unternehmensleitung des Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim Bild: dpaAnfang Februar hieß es, dass Boehringer prüft, künftig auch Corona-Impfstoff für andere Hersteller abzufüllen und zu verpacken. Wie weit ist man? Da sind wir ein bisschen von uns selber überholt worden. Im Moment füllen wir für andere nicht ab und haben auch keine Entscheidung dahingehend getroffen. Kurzfristig können wir nicht helfen, was nicht heißt, dass wir es künftig nicht machen. Aber wir produzieren selbst keine Humanimpfstoffe und haben auch keine Erfahrung damit. Anlagen von Tiervakzinen umzustellen und zu zertifizieren dauert mehrere Monate und ist sehr komplex.So lange dauert das Umstellen aber auch bei anderen Unternehmen. Warum also steigt Boehringer hier nicht ein?

Unsere Expertise liegt in der Entwicklung und Produktion von Therapeutika. Wir müssen unsere Ressourcen gezielt dort einsetzen, wo sie die größte Wirkung für die Patientinnen und Patienten entfalten. Deshalb konzentrieren wir uns auf die Entwicklung möglicher Therapeutika und nicht auf die Abfüllung von Impfstoffen. Es war damals ein Boehringer-Manager, der die Abfüllung nach einem Treffen mit dem französischen Staatspräsidenten Macron ins Spiel gebracht hat. Auch andere Pharmakonzerne wie Novartis oder Bayer sind in der öffentlichen Wahrnehmung erst durch politischen Druck in das Impfgeschäft eingestiegen. Für mich ist es nachvollziehbar, dass dieser Eindruck in der Öffentlichkeit entstanden ist. Curevac und Bayer haben ihre Zusammenarbeit am Tag des Impfgipfels kommuniziert. Aber so eine Kooperation entsteht nicht innerhalb von zwei Tagen.

Da sind mehrere Wochen vorangegangen, in denen über entscheidende Details gesprochen wurde. Was können wir beitragen, was braucht ihr – sind solche Fragen beantwortet, werden die Verträge finalisiert. Natürlich lässt sich solch eine Nachricht im Kontext des Impfgipfels dann auf zwei Arten lesen: Die Unternehmen, die gemeinsam eine Lösung gefunden haben und sie im Rahmen eines Gipfels verkünden oder die Politik, die ihnen erst Druck machen musste. Aus meiner Sicht braucht es aber sicher keinen politischen Druck, damit die Unternehmen Dinge vorantreiben.Wie empfinden Sie derzeit die politischen Diskussionen? Auch in Europa wird nun intensiv über Exportstopps diskutiert. Das ist nicht hilfreich. Warum hat alle Welt Impfstoff, nur Europa nicht – ich verstehe diese Diskussion und den damit verbundenen hohen politischen und öffentlichen Druck. Aber Grenzschließungen sind nicht die Lösung.

Das ist die Eskalation. Was wir jetzt nicht gebrauchen können ist ein harter Wettbewerb um Impfstoffe, bei dem jeder nur auf sich selbst schaut. Wir müssen die Grenzen offenhalten für Wissen, für Rohstoffe und Materialien, und auch für Impfstoff. Ich kenne die Herausforderungen der Wettbewerber nicht. Aber es wird auch nicht dadurch besser, dass wir jetzt die Grenzen schließen. Die Menschen reagieren sehr sensibel darauf, was wir im letzten Jahr gesehen haben, als die Grenzen dicht waren und keine Masken mehr von Deutschland nach Österreich geliefert wurden. Wenn wir jetzt sagen, wir liefern keinen Impfstoff mehr, steht das Deutschland nicht gut zu Gesicht.

Die EU will sich künftig unabhängiger machen und mit Hera eine ähnliche Behörde wie die amerikanische Barda aufsetzen, die Impfstoffhersteller bei der Entwicklung unterstützt. Braucht es ausgerechnet eine weitere Behörde, um besser vorbereitet zu sein?Grundsätzlich ist es positiv, dass mit Hera darüber nachgedacht wird, wie wir in Zukunft schneller reagieren und besser auf die nächste Pandemie vorbereitet sein können. Dabei sollte aber nicht der finanzielle Aspekt im Vordergrund stehen, sondern die Möglichkeit, wirklich schnell und agil zu handeln. Das macht Barda, die dem Verteidigungsministerium unterstellt ist, so stark, weil es flache Hierarchien und kurze Entscheidungswege gibt. Dazu muss man aber in Europa auch bereit sein. Dann kann Hera vielleicht erfolgreich sein, aber nicht, wenn es primär um regulatorische, um Kontroll- und Verteilungsfragen geht.Mehr zum ThemaKurze Entscheidungswege braucht es wohl auch im hiesigen Pandemiemanagement.

Oder mehr Pragmatismus? Neulich habe ich gelesen: Auf jeden Pragmatiker kommen hierzulande drei Bedenkenträger. (lacht) Aber es stimmt schon, wir beschäftigen uns in Deutschland immer zuerst mit den Risiken. In der Krise ist das aber nicht unbedingt das Beste. Ich bin kein Politiker, aber ich habe manchmal das Gefühl, der Datenschutz steht über allem und ist wichtiger als dass Kinder unterrichtet werden oder eine funktionierende App zur Kontaktnachverfolgung entwickelt wird. Ich hätte andere Prioritäten gesetzt: Die Gesundheit und Sicherheit der Menschen stehen an erster Stelle, aber dabei muss die Wirtschaft bestmöglich weiterlaufen.

Warum führen wir keine Diskussion darüber, dass geimpfte Menschen nicht wieder in ihr Restaurant gehen dürfen. Das hilft doch nicht nur den Geimpften, sondern auch dem Restaurantbetreiber. Das ist das, was ich unter Pragmatismus verstehe: Wir können nicht alle gleich behandeln, sondern müssen Probleme der Reihe nach lösen.Wie blicken Sie in diesen unsicheren Zeiten auf das aktuelle Geschäftsjahr?Wir als Unternehmen haben uns im vergangenen Pandemie-Jahr entschlossen, unsere Investitionen in Forschung und Entwicklung weiter zu steigern. Das ist ein Signal in die Organisation, aber auch für unsere Zukunft wichtig. Genauso würde ich gern eine gewisse Zuversicht nach außen geben. Die Diskussionen um eine dritte Welle sind wichtig und wir sollten die Situation ernst nehmen.

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