Chemieindustrie vor Rezession
VCI sieht „perfekten Sturm“: Die Chemie in Rezessionsangst

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Auch der VCI erwartet für 2022 einen Produktionsrückgang für Chemie und Pharma: Zwar profitiert die Branche derzeit noch bestehenden Aufträgen, doch zeigen alle Indikatoren nach unten. Deutschland als Industriestandort gerate ins Hintertreffen, beklagt der Verband – und sieht dabei die Politik gefordert.

Sommerstimmung mag bei der Industrie nicht aufkommen: Sprunghaft gestiegene Preise für Energie, Rohstoffe und Vorprodukte, Krieg und Handelskonflikte und die endlos-Lockdown-Strategie Chinas haben den vorsichtigen Optimismus vollständig ausgebremst.

Frankfurt – Sommerstimmung mag bei der Industrie nicht aufkommen: Sprunghaft gestiegene Preise für Energie, Rohstoffe und Vorprodukte, Krieg und Handelskonflikte und die endlos-Lockdown-Strategie Chinas haben den vorsichtigen Optimismus vollständig ausgebremst. Zwar steht unterm Strich 2022 noch ein Produktionsplus von 0,5 Prozent in den Büchern, doch ist dafür hauptsächlich das bisher krisenfeste Pharmageschäft verantwortlich. Ohne Pillen, Salben und Präparate geht die Chemieproduktion der Bundesrepublik um 3 Prozent zurück.

Besserung ist nicht in Sicht: Laut dem Chemieverband VCI sind die Verkaufsmengen im klassischen Chemiegeschäft rückläufig, der Auftragsbestand weitgehend abgebaut und die Kapazitätsauslastung der Anlagen auf 80 Prozent gesunken. Gleichzeitig geraten die Gewinnmargen vieler Unternehmen zunehmend unter Druck, da die Kosten für Rohstoffe und Energie von Januar bis Juni im Schnitt um mehr als ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sind.

Diese Mehrkosten können zwar zum Teil an die Kunden weitergegeben werden – so legte trotz rückläufiger Produktion angesichts der um 21,5 Prozent gestiegenen Erzeugerpreise der Branchenumsatz um 22 Prozent auf 130 Milliarden Euro im Vergleich zum Vorjahr zu – aber eben nur zum Teil.

Öl und Kohle statte Gas und Öko: VCI drängt auf schnelle Genehmigung

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) begrüßt die geplanten Gesetzesänderungen der Bundesregierung im Kampf gegen eine drohende Gasmangellage – und setzt auf Kohle und Öl. Entsprechende projekte müssten jetzt „pragmatisch, rechtssicher und schnell“ angegangen und vor allem genehmigt werden.

VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup stellt klar: „Wir brauchen jetzt sofort einen Notfallplan für Genehmigungen. Unsere Unternehmen stehen in den Startlöchern, werden aber derzeit von den geltenden Regelungen ausgebremst. Außerdem ist föderalistisches Gerangel um Zuständigkeiten das Letzte, was uns jetzt hilft. Um diese Krisensituation gemeinsam zu schultern, ist eine Allianz von Bund und Ländern gefragt.“

Zeitlich befristet sollten Brennstoffwechsel von Unternehmen an Behörden nur gemeldet werden müssen. Ansonsten wären monatelange Verfahren notwendig. Für erleichterte Genehmigungen ist eine Änderung des Energiesicherungsgesetzes nötig.

Mehr Kosten = höhere Gewinne? Wenn es so einfach wäre…

So stiegen die Kosten für Rohstoffe und Energie von Januar bis Juni im Schnitt um mehr als ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr, ergab eine Umfrage unter den VCI-Mitgliedern. Bei einem beträchtlichen Anteil der Unternehmen – über 20 Prozent – lag der Anstieg sogar bei mehr als 50 Prozent.

Von einer Krise in die nächste: Die Industrie kommt nicht zur Ruhe

Von einer Krise in die nächste: Die Industrie kommt nicht zur Ruhe(Bild: VCI )

Dabei konnten über 50 Prozent der Firmen nur weniger als die Hälfte des Kostenanstiegs an ihre Kunden durchreichen, was sich – zusammen mit dem rückläufigen Verkaufsmengen – negativ auf die Ertragslage der Unternehmen auswirkt. Rund 70 Prozent der Unternehmen berichten über einen Gewinnrückgang, davon sind einige bereits in die Verlustzone geraten.

Besonders schwer traf es das Segment Fein- und Spezialchemie mit einem Produktionsrückgang von 9 Prozent. Die Hersteller von anorganischen und organischen Grundstoffen sowie von Konsumchemikalien mussten ihre Produktion nur wenig drosseln (-0,5 %). Allein die Sparte Polymere behauptete sich im ersten Halbjahr mit einem Zuwachs von 3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Herstellung von Pharmazeutika erreichte dank einer coronabedingten Sonderkonjunktur ein Plus von 8,5 Prozent.

Ein Gespenst geht um: Kleinen Unternehmen geht es „an den Kragen“

Kein Wunder, das VCI-Präsident Christian Kullmann von „Angst vor einer Rezession“ spricht: Gerade kleineren und mittelständischen Unternehmen ginge es jetzt „an den Kragen“, so der Verbandspräsident. „Eine spürbare Entspannung bei den Energie- und Rohstoffkosten sehen wir derzeit nicht. Erdgas dürfte auch weiter deutlich teurer sein als in anderen Regionen der Welt.

Vor diesem Hintergrund bekommt der Standort Deutschland zunehmend ein Wettbewerbsproblem – nicht nur in den energieintensiven Sektoren“, so Kullmann. Die Mischung aus demografischem Wandel, geforderter Defossilierung, gestörter Lieferketten, Krieg und Rohstoffkrisen ergebe in Summe einen „perfekten Sturm“ für die eigentlich krisengeprüfte Industrie.

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Selbst wenn weiterhin ausreichend Rohstoffe nach Deutschland kämen, rechnet der VCI mit einem Porduktionsminus von 1,5 Prozent. Für das reine Chemiegeschäft erwartet Kullman sogar 4 Prozent weniger. Und das ist ein großes „Wenn“. Schon jetzt will niemand den teufel an die Wand malen – trotzdem bereitet sich die Branche auf verschiedene Szenarien der Drosselung der russischen Gaslieferungen vor. Pragmatismus sei auch bei der elektrischen Energie gefragt: „Keiner will mehr Kohlemeiler. Aber in der jetzigen Lage helfen sie uns, vorübergehend mit der Gas-Mangellage umgehen zu können.“

Bund hui, EU pfui: VCI geht mit der Politik ins Gericht

Während der VCI nicht mit Lob für die Bundesregierung geizt, lassen die EU-Institutionen den geforderten Pragmatismus vermissen, so Kullman: Vielen Beamten in der Kommission sei der Bezug zur Realität in den Betrieben und den Märkten weitgehend verloren gegangen. Auf EU-Ebene sind derzeit rund 150 Regulierungen mit oft milliardenschwerer Wirkung auf die Industrie in Planung oder Ausarbeitung. „Vor allem unser Mittelstand kommt mit dem Brüsseler Tsunami von Vorschriften einfach nicht mehr mit“, so der VCI-Präsident.

Der Verband geht jetzt für das Gesamtjahr 2022 – bei preisintensiver, aber ausreichender Energie- und Rohstoffversorgung – von einem Rückgang der Produktion der Branche von 1,5 Prozent aus. Für das reine Chemiegeschäft rechnet er sogar mit 4 Prozent weniger Menge. Viel hänge aber von den industriepolitischen Weichenstellungen der kommenden Monate in Deutschland und Europa ab, betonte Kullmann. Ähnliches gelte für den geplanten CO2-Grenzausgleich, für den sich das EU-Parlament ausgesprochen hat. Diese Maßnahme, so der VCI, funktioniere aber für die Branche als Alternative zu kostenlosen Zertifikaten nicht. Vor allem für den Umgang mit Exporten sei keine Lösung erkennbar und eine WTO-konforme Ausgestaltung „stehe in den Sternen“. In den Verhandlungen zwischen Rat und Parlament müssten diese Punkte dringend geklärt werden. Erfolg versprechender sei es, wie jüngst von den G7 auf dem Gipfel in Elmau angekündigt, Initiativen für den globalen Klimaschutz über einen „Klimaclub“ voranzutreiben, betonte Kullmann. „Die Zukunft gehört nicht dem, der sich abschottet, sondern dem, der Partner für seine Ideen gewinnt.“

Genehmigungsverfahren auch für Industrieprojekte beschleunigen

Der VCI plädiert dafür, das Prinzip „erst bauen und später genehmigen“ nicht nur für die dringend benötigten LNG-Terminals zur Anlandung und Einspeisung von Flüssiggas anzuwenden, sondern auch auf die Zulassung von Industrieprojekten auszuweiten, um die Transformation der Wirtschaft zu beschleunigen und den Standort attraktiver zu machen. Denn die Zahl der ausländischen Investitionsprojekte sinkt – und das bereits seit 2017. Im Kern wegen hoher Energiekosten, großer bürokratischer Hürden und vor allem wegen der langatmigen Genehmigungen, wie Analysen von Ernst & Young aktuell belegen.

Entwicklung der Produktion in den Chemiesparten: Das Minus ist da

Entwicklung der Produktion in den Chemiesparten: Das Minus ist da(Bild: VCI )

Daher fordert der VCI ein Gesetz zur Beschleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfahren, das auch die Zulassung von Industrieanlagen miteinschließt. Denkverbote in der Politik könne man sich in der derzeitigen Situation nicht leisten. Entwürfe für ein solches Gesetz liegen in Berlin längst in der Schublade, doch die Verabschiedung des Bund-Länder-Pakts zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren lässt auf sich warten. „Die Chance, zeitnah Maßnahmen mit bundesweiter Wirkung zu erlassen, ist gerade auf der Konferenz von Bund und Ländern vertan worden. Das ist ein folgenschwerer Fehler“, stellte Kullmann fest.

Die Chemie und die Bahn-Sanierung: Clinch um Kapazitäten

Der VCI hat Mitte Februar ein Konzept vorgelegt, wie die Planungs- und Genehmigungsverfahren überall in Deutschland verkürzt werden können, ohne dass darunter Sorgfalt und Sicherheit leiden. Rund 1.500 Verfahren zu Industrieanlagen auf Basis des Bundesimmissionsschutzgesetzes werden etwa pro Jahr in Deutschland abgewickelt. Solche Verfahren mit Umwelt-verträglichkeitsprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung dauern bis zur Genehmigung derzeit in der Regel fünf bis acht Jahre.

Der Schienenverkehr ist derzeit extrem belastet. Das spürt die Branche bei der Belieferung mit Rohstoffen und Gütern. Der VCI warnte vor zusätzlichen Verschlechterungen durch anstehende Baumaßnahmen, die zu Rückstau, zur Überlastung von Knotenpunkten und zu Verzögerungen führen. Diese Einschränkungen, sagte Kullmann, stellten eine hochgradige Gefährdung für die Standorte der Branche dar. „Richtig ist, dass das Schienennetz ertüchtigt wird. Aber bitte nicht überall gleichzeitig, so dass keine Züge mehr unterwegs sein können.“ Als „Lösung“ hat die DB Cargo der Branche nahegelegt, 20 Prozent ihrer Transporte von der Schiene auf den Lkw zu verlagern, obwohl die Verkehrsdichte auf der Straße ebenfalls hoch ist und zudem Lkw-Fahrer fehlen. Stattdessen fordert der VCI, dass die Bauarbeiten an Parallel-Trassen entzerrt und der Dialog mit der Kundengruppe Industrie optimiert werden muss.

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