Werden Lagertemperaturen pharmazeutischer Wirkstoffe nicht exakt eingehalten, ist die Produktqualität nicht mehr gewährleistet. Störungen der Gefriertruhenfunktion müssen daher möglichst frühzeitig erkannt werden. Lesen Sie, wie ein algorithmusgestütztes Überwachungs- und Diagnosesystem dabei hilft. Ein Best- Practice-Beispiel für künstliche Intelligenz im Dienst vorausschauender Wartung. Signifikante Hinweise auf eine bevorstehende, kritische Störung geben ein plötzlicher Übergang zu einem nicht schwingenden, linearen Temperaturverlauf sowie vorangehende Änderungen von Amplitude und Wellenlänge der Schwingung. Daraus entwickelte sich die Idee, die Gefriertruhenüberwachung mit KI anzugehen. (Bild: AKIO – stock.adobe.com) Gefriertruhen spielen eine entscheidende Rolle bei der Vetter in Ravensburg. Dort lagern – bei Temperaturen bis -80 °C – für Patienten mitunter lebenswichtige pharmazeutische Wirkstoffe, vornehmlich Biologika, und warten auf ihre Verarbeitung bzw. den Versand in alle Welt. Mehr als 300 Gefriertruhen betreibt das Unternehmen allein am Standort Ravensburg Vetter West im Gewerbegebiet Erlen.

Von der Beobachtung zum AlgorithmusNatürlich wachten schon immer Temperatursensoren in Verbindung mit dedizierten Leitsystemen für das Raummonitoring kontinuierlich auch über die Gefriertruhen. Das geschah allerdings lediglich mittels High- und Low-Alarmen, sodass nach einer High-Alarmierung nur wenig Zeit blieb, bevor das Gefriergut den zulässigen, oft sehr engen Temperaturbereich verließ. Aufgrund extrem hoher Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen müsste es dann im schlimmsten Fall vernichtet werden. Seit Jahren stand diesen Leitsystemen vom Typ Centum VP von Yokogawa bereits Exaquantum als Plant Information Management System (PIMS) desselben Herstellers zur Seite, sodass über einen langen Zeitraum hinweg historische Temperaturdaten verfügbar waren.Vetter im Kurzporträt Der Standort Ravensburg Vetter West (Bild: Vetter) Kerngeschäft des Unternehmens sind Herstellung und Verpackung aseptisch vorgefüllter Spritzensysteme, Karpulen und Vials.

An rund einem Dutzend Produktions- und Vertriebsstandorten in Europa, Amerika und Asien sind aktuell etwa 5.700 Mitarbeitende beschäftigt. Wesentliche Aufgaben am Standort Ravensburg Vetter West sind die manuelle und automatisierte visuelle Qualitätskontrolle der Produkte sowie die Logistik. Die Kunden – Pharma- und Biotechunternehmen aus aller Welt – sowie nationale und internationale Aufsichtsbehörden stellen höchste Anforderungen an die Einhaltung der GMP-Auflagen.Auch Beobachtungen der Experten bei Vetter führten bereits auf eine wichtige Spur. Michael Kratzmann, Head of Production Engineering bei Vetter, erklärt: „Meist kündigt sich eine Störung der Truhen in Form von Anomalien im Temperaturverlauf an, ohne dass jedoch die Alarmgrenzen überschritten werden.“

Im Normalzustand schwankt die Temperatur periodisch und mit konstanter Amplitude um den Sollwert. Signifikante Hinweise auf eine bevorstehende, kritische Störung geben ein plötzlicher Übergang zu einem nicht schwingenden, linearen Temperaturverlauf sowie vorangehende Änderungen von Amplitude und Wellenlänge der Schwingung. Daraus entwickelte sich die Idee, die Aufgabe mit Künstlicher Intelligenz (KI) anzugehen.Auf Grundlage der Erkenntnisse von Vetter begannen KI-Spezialisten von Yokogawa im Frühjahr 2020 mit der systematischen Analyse von rund 700 GB Messdaten aus dem PIMS im Rahmen einer Machbarkeitsstudie. Dabei wurden zahlreiche weitere Abweichungen vom Normalzustand gefunden. Der intensive Dialog mit Vetter ergab wichtige Anhaltspunkte dafür, wie diese zu bewerten sind. Die meisten Abweichungsmuster, so das Ergebnis, deuten nicht oder zumindest nicht unmittelbar auf eine bevorstehende Störung hin.

Dr. Silke Müller, Solution Consultant Data Analytics bei der Yokogawa Deutschland, fasst zusammen: „Die wesentliche Anforderung an unseren Algorithmus besteht darin, einen signifikanten, kritischen Temperaturverlauf zu erkennen und andere Abweichungen als unkritisch zu bewerten, um so eine hohe Erkennungsrate und damit Zuverlässigkeit bei insgesamt niedriger Alarmierungsfrequenz zu erreichen.“Namur Open Architecture (NOA) in der PraxisDas eigentliche Implementierungsprojekt begann im Sommer 2020. Als Echtzeit-Datenquelle fungiert das Raummonitoring-Leitsystem, von dem kontinuierlich Temperaturdaten aller angeschlossenen Truhen von einer Bedienstation aus über eine OPC-Schnittstelle Daten unidirektional, also im Sinne einer NOA-Diode, an einen Collaborative Information-(CI-)Server von Yokogawa übermittelt werden. Das Diagnosesystem arbeitet somit – gemäß Namur-Empfehlung 175/176 – rückwirkungsfrei auf das Leitsystem. Bildergalerie Auch zusätzliche Datenquellen, etwa papierlose Schreiber, wie sie an anderen Standorten von Vetter im Einsatz sind, können z. B. via OPC eingebunden werden.

Im CI-Server werden alle Daten gespeichert, vom Algorithmus verarbeitet, die Ergebnisse interpretiert, aufbereitet und visualisiert. Die Alarmierung erfolgt dann via OPC DA unter Nutzung des existierenden zentralen Alarmierungssystems von Vetter, einer Siemens WinCC-Installation. Von dort aus erreichen die Alarme die zuständigen Produktionsverantwortlichen bzw. Techniker auf unterschiedlichen, systematisch festgelegten Kommunikationskanälen. All dies geschieht in einer dezentralen Architektur, sodass Leitwarten für das Raummonitoring überflüssig sind.Frühzeitige Warnung bei geringem AlarmaufkommenObwohl am Standort Ravensburg Vetter West Truhen unterschiedlichen Typs in verschiedenen Temperaturbereichen im Einsatz sind, reicht ein einziger Algorithmus mit einem einzigen Parametersatz aus, um sie zuverlässig zu überwachen. Es muss lediglich gewährleistet sein, dass die Schwingungsamplitude der Temperatur ausreichend groß ist, um exakt gemessen und sicher vom Algorithmus erkannt zu werden. Insgesamt 310 Truhen sind seit der endgültigen Inbetriebnahme des Systems im Dezember 2020 angeschlossen.

Matej Dragonja (l.) und Michael Kratzmann, Vetter, im Gespräch mit Dr. Silke Müller, Yokogawa: Der intensive Dialog ergab wichtige Anhaltspunkte dafür, wie Abweichungen vom Normalzustand zu bewerten sind. (Bild: Dr. Th. Schmidt, Redaktionsbüro WW + T) Grundsätzlich werden die periodischen Schwankungen der Temperaturdaten via Fouriertransformation in ein sodann quantitativ analysierbares Signal umgewandelt. Der Algorithmus beobachtet zunächst in einer mehrstündigen Trainingsphase den Temperaturverlauf jeder Truhe, die neu in Betrieb genommen oder deren Status oder Arbeitspunkt verändert wurde. Auch während der anschließenden Diagnosephase verfeinert der Algorithmus selbsttätig sein Erkennungspotenzial.

Mit dem Ergebnis ist Matej Dragonja, Projektleiter bei Vetter, sehr zufrieden: „In einem Zeitraum von zwei Wochen liefert das System von allen angeschlossenen Truhen typischerweise vier Alarme, wovon zwei ohne erkennbare Folgen bleiben. Zwei Alarme sind kritisch und erfordern entweder weitere Überprüfungen oder die Umlagerung des Truheninhalts in eine Reservetruhe. Dafür halten wir jederzeit spezielles Personal vor.“ Während für ein sicheres Umlagern in der Regel eine Vorwarnzeit von einer Stunde ausreicht, bietet das neue Diagnosesystem nach bisheriger Erfahrung einen Sicherheitspuffer von sechs bis acht Stunden.

Das entlastet das Personal selbst dann, wenn einmal mehrere kritische Ereignisse nahezu gleichzeitig eintreten sollten.KI auf dem VormarschMit dem KI-gestützten Überwachungssystem hat Vetter Neuland betreten. „Da ist es selbstverständlich, dass die Feinjustierung der Ereignisbewertung schrittweise erfolgen musste, da wir kein Risiko eingehen wollten. Wir alle, sowohl im Engineering als auch in der Produktion, sind sehr zufrieden mit der Lösung. Sie fügt sich nahtlos in die bestehende Systemlandschaft ein, funktioniert zuverlässig und gibt uns bei minimalem Bedienungsaufwand ein hohes Maß an zusätzlicher Sicherheit“, fasst Kratzmann seine Erfahrungen zusammen. Daher ist geplant, zunächst rund 80 weitere Truhen an zwei weiteren Ravensburger Standorten ebenfalls an entsprechende Diagnosesysteme anzuschließen.

Die Lösung fügt sich nahtlos in die bestehende Systemlandschaft ein, funktioniert zuverlässig und gibt uns bei minimalem Bedienungsaufwand ein hohes Maß an zusätzlicher Sicherheit.Michael Kratzmann, Head of Production Engineering, Vetter Silke Müller betont noch einen weiteren Aspekt des Projekts: „Wir waren, vom Kickoff über die Machbarkeitsstudie, die Implementierung und initiale Parametrierung des Algorithmus bis hin zur Inbetriebnahme, nicht vor Ort in Ravensburg. Das Projekt wurde – nicht zuletzt coronabedingt – komplett aus der Ferne, also ‚remote‘ koordiniert und durchgeführt.“Aktuelle Studien (vgl. z. B. www.studie-digitalisierung.de, www.bitkom-research.de) zeigen, dass künstliche Intelligenz sich in vielen deutschen Unternehmen nur langsam durchsetzt.

Das Management von Vetter steht modernen KI-Lösungen dagegen ausgesprochen positiv gegenüber. Michael Kratzmann erläutert: „Bei uns sind sogar zwei Mitarbeitende ausdrücklich als ‚KI-Scouts‘ beschäftigt, um weitere Potenziale im Unternehmen auszuloten.“ Auch Silke Müller schätzt das Potenzial der KI: „Gerade Machine Learning, also der Einsatz von Algorithmen, um aus Daten neuartige und vorausschauende Erkenntnisse zu gewinnen, eröffnet auch in der Chemie- und Pharmaindustrie viele neue Möglichkeiten.“

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