Virtual Reality bei Boehringer Ingelheim Mit Avatar, VR-Brille und Highscore: So geht Training in der Pharmaproduktion heute 14.05.2020 |
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Anke Geipel-Kern*
/ Anke Geipel-KernMit einem neuen Virtual-Reality-Training macht Boehringer Ingelheim seine Mitarbeiter für die neue Tablettenproduktion in Ingelheim fit. Noch ist es ein Pilotprojekt, aber mittel- bis langfristig will Holger Holakovsky, der Leiter der Solida-Produktion am Standort, VR zur Schulung und zum Wissenstransfer einsetzen. PROCESS bekam die Gelegenheit, das VR-Training selbst zu testen – mit überraschenden Einblicken.

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VR-Training an der Containment-Tablettenpresse (Bild: Boehringer Ingelheim ) Helmut hat einen langen und extra reißfesten Geduldsfaden. Den braucht er auch, jedenfalls bei Anfängern wie mir. Mit einer VR-Brille auf der Nase und einem Joystick in der Hand versuche ich zum xsten Mal, eine der im Isolator verstreuten Pillen aufzusaugen. Verflixt, schon wieder ist eins der kleinen Dinger auf der glatten Oberfläche in die hinterste Ecke der Maschine gerutscht. Also fingere ich meine Hand aus dem Isolatorhandschuh, verändere auf dem Display die Perspektive, begebe mich virtuell auf die andere Seite und greife in einen Handschuh. Neuer Versuch – und schon wieder daneben, das ersehnte Klicken, wenn die Tablette im Schlauch verschwindet. Es will nicht kommen. VR fühlt sich an wie echtDer Saugerschlauch benimmt sich wie eine widerspenstige Schlange und entwickelt ein ungeahntes Eigenleben. Und was macht Helmut? Er behält seinen unerschütterlichen Gleichmut, ermahnt mich mit seiner leicht norddeutsch gefärbten sonoren Stimme, er sehe noch eine Tablette und, um mir die Arbeit zu erleichtern, wechselt diese erneut ihre Farbe, damit sie sich vom Edelstahl der Maschine besser abhebt.
Das VR-Training fühlt sich an wie echt, die sportlichen Aspekte der Reinigung inbegriffen. (Bild: Boehringer Ingelheim ) Schließlich gebe ich leicht entnervt auf und übergebe Brille und Stick Martin Döhms, dem Coach, der im richtigen Leben die Pharmakanten von Boehringer Ingelheim mit dem virtuellen Training fit für ihren Einsatz in der neuen Tablettenproduktion „SOL“ macht. Er betreut das VR-Schulungsprojekt und hat bei der Entwicklung der Schulungsinhalte unterstützt, die jetzt in das 3D-Modell hinein programmiert sind. „SOL“ steht für „Solids-­Launch-Fabrik“ und ab Ende des Jahres sollen am Standort Ingelheim 75 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Produktionsmethoden für neue Tablettenpräparate entwickeln und Arzneimittel für alle weltweiten Markteinführungen zentral herstellen.
Mit der „SOL“ sollen die Produkteinführungen noch schneller und schlagkräftiger werden, daher ist die neue Fabrik ganz auf Flexibilität ausgelegt und mit State-of the-Art-Technik ausgestattet, die es zum Teil so am Standort noch nicht gibt und mit ein Grund für die Entwicklung des VR-Trainings-Modells sind und Avatar Helmuts Einsatz. Der ist übrigens keine Erfindung. Sein Alter Ego Helmut Bommrowitz leitet bei Fette in Schwarzenbek das Kundenzentrum und hat in den 47 Jahren seiner Berufstätigkeit sicher Gelegenheit genug bekommen, seinen Geduldsfaden zu stählen. Warum sich Schulung verändern muss„Wir beschäftigen uns schon länger mit dem Thema Virtual Reality in der Aus- und Weiterbildung. Der Druck, Inhalte und Lernformate anzupassen und weiterzuentwickeln, hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen“, sagt Holger Holakovsky. Er leitet die Solida-Produktion am Standort Ingelheim und die neue Solids-Launch-Produktion, in der die virtuelle Containment-Tablettenpresse im nächsten Jahr ganz real produzieren wird. Die Gründe für die Veränderung hat man bei Boehringer gründlich analysiert und zwei Faktoren herausgearbeitet. Zum einen gäbe es den typischen Boehringer-Mitarbeiter, der nach der Lehre in die Produktion geht und dort bis zur Rente im gleichen Betrieb arbeitet, so kaum noch. Heute seien berufliche Lebensläufe variabler, und die Fluktuation in den Betrieben höher, erklärt der Produktionsleiter: „Mitarbeiter beschließen nach der Lehre die Meisterprüfung zu machen und gehen danach noch mal auf die Hochschule. Das ist heute ganz normal und war früher so kaum üblich.“ Auch Automatisierung und Digitalisierung in der Produktion treiben den Weiterbildungsbedarf. Die Ausrüster statten die Maschinen mit immer mehr Features aus: Maschinenüberwachung in Echtzeit, Konnektivität, OPC-UA-­Schnittstellen für den Anschluss an das Internet der Dinge oder die Anbindung an ein MES gehören mittlerweile zum Equipment dazu und müssen bedient werden. Lebenslanges Lernen wird zur NotwendigkeitDie Floskel vom lebenslangen Lernen im Industrie-4.0-Zeitalter – bei Boehringer ist das gelebte Realität. „Wir wollen die Mitarbeiter befähigen, mit diesen neuen Werkzeugen umzugehen, oft fehlt aber im Produktionsalltag die Zeit, die Kollegen ein paar Tage lang zu einem Lehrgang zum Maschinenhersteller zu schicken“, sagt Holakovsky. VR bildet für ihn in mehrfacher Hinsicht die perfekte Brücke zu einem zeitgemäßen Lernen: Es werden keine Produktionsmaschinen blockiert: Die Inhalte können beliebig oft wiederholt werden, jeder kann in seiner individuellen Geschwindigkeit lernen. Unterschiedliche Sinne werden angesprochen und das Erlernte haftet besser im Gedächtnis, wie die Lektüre von SOPs oder Maschinenmanuals. Hinzu kommt ein willkommener Nebeneffekt: Mitarbeiter, die mit der Digitalisierung noch fremdeln, werden sportlich und spielerisch an das Thema herangeführt.Bei dem VR-Pilotprojekt ist Tablettenpressenhersteller Fette Compacting mit im Boot und eine Hamburger VR-Agentur, die das Programm geschrieben hat. Fette hat das VR-Tool mittlerweile als Zusatzangebot mit im Portfolio und Holakowsky ist überzeugt davon, dass ein VR-Schulungstool in Zukunft zu jeder Pharmamaschine mit dazu gehört – im Zeitalter des digitalen Zwillings sollte das für die Hersteller eigentlich kein Thema mehr sein. Vor allem, weil nicht nur Boehringer Ingelheim sondern auch andere Pharmaunternehmen Bedarf anmelden. Überrascht hat ihn dann allerdings doch, dass keiner der angefragten Apparatebauer derlei VR-Trainingsmodelle im Angebot hatte. Damit Handgriffe in Fleisch und Blut übergehenVR-Coach Martin Döhms nutzt das virtuelle Trainingsmodell, um gezielt Prozesse zu üben, die für die Mitarbeiter in der „SOL“-Fa­brik neu sind, z.B. die Arbeit unter dem Isolator. „Da wir in der Launch-Fabrik neue Wirkstoffe prozessieren, deren OEB-Einstufung wir noch nicht kennen, ist ein Teil der Produktion contained ausgeführt“, erklärt er. Mit der Arbeit unter Containment-Bedingungen betrete man Neuland, und dazu gehört für die Mitarbeiter auch die Bedienung einer Wash-in-Place-­Tablettenpresse unter dem Isolator. Anders als gewohnt, kann man hier nicht einfach den Deckel nach oben weg klappen und mit der Reinigung des Innenraums starten. Beim Säubern darf das Containment nicht gebrochen werden, sondern alles muss über die Handschuheingriffe bewältigt werden. Für die Kollegen bedeute das eine Umstellung von Verhaltensweisen und das Üben bisher unbekannter Handgriffe, sagt Döhms. Die können nun vor der Inbetriebnahme geübt werden und das lebensecht. Denn das VR-Modell ist von verblüffender Realität. Größe, Geräusche – alles stimmt. Von der Position der Handschuheingriffe bis zur Steifigkeit des Saugerschlauchs, dem typischen Klick beim Schließen des Handschuheingriffs oder dem Klackern, wenn die Tabletten aufgesaugt werden. Und, wer es bisher noch nicht wusste, das Modell lehrt es ihn: Arbeit im Isolator ist nichts für unbewegliche Zeitgenossen. Vorbeugen, bücken, in die Knie gehen – um bestimmte Positionen zu erreichen, braucht man Beweglichkeit und Geschicklichkeit. Alles das macht die dreidimensionale Illusion perfekt.Ergänzendes zum ThemaProduktionsstrategieVon Forschung bis Produktion – alles an einem Standort84 Millionen Euro investiert Boehringer Ingelheim in die Solids-Launch-Fabrik (SOL), in der ab dem vierten Quartal 2020 75 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neue Tablettenpräparate produktionstechnisch entwickeln und für alle weltweiten Markteinführungen zentral herstellen. Im Gegenzug werden bereits seit 2016 ältere, einfacher zu fertigende Medikamente schrittweise in andere Länder im weltweiten Produktionsnetzwerk verlagert. Am Standort Ingelheim konzentriert man sich damit auf die anspruchsvolleren Aufgaben in der chemischen Fertigung. Damit ist die Solids-Launch-Fabrik ein wichtiger Baustein, mit dem der Pharmakonzern die gesamte Wertschöpfungskette von der Forschung bis zur Produktion von Medikamenten langfristig in Deutschland hält. Die von 2016 bis 2017 in zwölf Monaten gebaute Diabetesfabrik wird mit der Inbetriebnahme der „SOL“-Fabrik ebenfalls Bestandteil der neuen Produktionsstrategie, um Produkteinführungen vorzubereiten, und agil auf Marktbedarfe sowie die Entwicklung eigener Produkte reagieren zu können. Die Produktion der Diabetes-Präparate soll ab 2020 an Unternehmensstandorte in andere Länder, wie Mexiko oder Griechenland, abgegeben werden. In drei Stufen zum Lernerfolg, Test inklusiveIm Entdeckermodus kann man sich alle Maschinendetails anschauen. Das Training selbst durchlaufen die Mitarbeiter in drei Schwierigkeitsgraden, die wie im richtigen Leben aufeinander aufbauen. In der Basisübung nimmt ein erfahrener Lehrer – Helmut – den Neuling an die Hand und erklärt geduldig, was zu tun ist. Fortgeschrittene arbeiten unter Anleitung eine Checkliste ab und in der dritten Stufe gilt es, selbständig den Isolator von Produktrückständen zu befreien. Den sportlichen Ehrgeiz soll der Highscore wecken: Die höchsten Punktzahlen erhalten Mitarbeiter, die besonders viele Produktrückstände an kritischen Stellen im Isolator beseitigen. Im Testmodus kann der Trainee dann überprüfen, ob er tatsächlich reif für die Praxis ist. Fest steht jedenfalls, das sich VR bei Boehringer Ingelheim seinen Platz in der Schulung erobern wird. Fernziel sei es, alle Anlagen virtuell zu Trainingszwecken abzubilden, sagt Holakovsky.
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